Kerstin und das Chaos


Feldweg an einem kalten Wintermorgen gesäumt von kahlen Bäumen

Sonnenaufgang oder was ich beim Laufen über mich lernte

Es ist 7:20 Uhr und die Kinder sind auf dem Weg zur Schule. Ich verlasse gleichzeitig mit Ihnen das Haus. In Laufschuhen, mit grell-leuchtender Jacke und einer wahnsinnig praktischen Lampe auf dem Kopf. Ich sehe ein bisschen aus, wie eine Karikatur einer mittelalten Frau in Funktionskleidung.

Könnte mir unangenehm sein, ist es aber nicht. Auch wenn es schon hell wäre und mich viele sähen.

Ich gehe laufen. Und ich muss mich dazu nicht zwingen, ich möchte laufen gehen. Ich laufe im Dunkeln los und da ist eine Stirnlampe super. Sonst würde ich mich auf die Schnütt legen, unsanft auf den Feldwegen mich niederstrecken.

Selfie mit Stirnlampe und Mütze auf einem Feldweg

Mir wäre es noch vor wenigen Jahren so unfassbar unangenehm gewesen, wenn mich jemand beim Sport gesehen hätte. Auch ohne praktische Leuchte auf dem Kopf. Weil es mir immer unangenehm gewesen wäre, dabei gesehen zu werden.

“Ich bin so unfassbar unsportlich. Wenn ich versuche Sport zu machen, sehe ich lächerlich aus.”

Erst im Nachhinein ist mir klar, dass ich immer solche Glaubenssätze im Kopf hatte und das genau diese mich ziemlich ausgebremst haben.

Wenn ich heute 5 km vor der Arbeit laufe und in all den Jahren zuvor nicht einmal eine Sportplatzrunde am Stück geschafft habe, dann ist es nur die halbe Wahrheit, dass ich nicht wusste, wie ich laufen muss. Der andere Teil der Wahrheit ist, dass es nie so richtig ernsthaft versucht habe zu lernen oder zumindest immer sehr schnell meine kläglichen Versuche eingestellt habe.

“Kann ich eh nicht. Gerade wieder mit dem Versuch bewiesen.”

In der Grundschule war Sportunterricht für mich noch einfach Sportunterricht für mich. Eine nette Schulstunde, die meistens Spaß machte. Ein Schulfach, in dem ich nie die die allerbesten Noten hatte, aber auch keinen Anlass es nicht zu mögen.

Ab dem Gymnasium habe ich Sport gehasst. Weil ich Sport gefürchtet habe. Alles am Sportunterricht dort war eine Qual. Ich fühlte mich vorgeführt, der Lächerlichkeit preisgegeben und gedemütigt. Mein Ausweg war im Nachhinein betrachtet: Ich habe aufgegeben und mich in eine Rolle mit clownesker Komik geflüchtet.

Wenn ich gar nicht den Eindruck erwecke, ernsthaft gut zu sein im Sportunterricht, wenn ich von vornherein alles ins Lächerliche ziehe, wenn es nie so aussieht, als wolle ich es schaffen, dann ist es nicht peinliches Scheitern. Pubertäre Logik, die sich verselbstständig hat und zu merkwürdigen Glaubenssätzen führte. Mich bis ins Erwachsenenalter ausbremste.

Wenn ich versucht habe in den Jahren zuvor mich sportlich zu betätigen – was wahnsinnig selten der Fall war, weil Sport bei mir so negativ besetzt war – dann war es mir immer unangenehm, wenn mich jemand dabei sehen könnte. Ich habe mich immer beobachtet gefühlt, fast immer erwartet, dass mich jemand verspottet.

Klar geworden ist mir das erst, als ich mit über 40 Jahren nicht nur angefangen habe zu laufen, sondern festgestellt habe, dass das sogar Spaß machen kann, dass Sport gut tut und dass ich absolut nicht schlecht darin bin. Ich werde keinen Marathon laufen und ich bin immer recht langsam unterwegs. Aber ich bin bei den meisten meiner Läufe so wahnsinnig stolz auf mich und immer wieder fasziniert, dass ich das kann. Ich kann laufen!

Am Ende war übrigens der “Trick”: Langsamer laufen. Tempo finden. Rhythmus finden. Bei mir geht das mit Musik.