Es ist ein Nachmittag mitten in der Woche. Der Kindergarten ist vorbei, die Kinder verlangen nach Programm. Programm bedeutet, dass die Prinzessin zu ihrer Freundin düst, der Sonnenschein mit den Nachbarstöchtern auf dem Spielplatz (TONNEN!!!) Kastanien sammelt und Krümel Fahrrad fährt.
Letzteres ist extrem aufregend, denn er braucht dafür so ziemlich die komplette Breite des Feldweges, der unsere Straße darstellen soll. So laufe ich immer dem Krümel in seinem irren – und vor allem schnellen Zickzack hinterher – von der Haustür zum Spielplatz und vom Spielplatz zur Haustür. Immer einen Blick auf die Kastanien sammelnden Kinder auf dem Spielplatz…

Und da sitzen sie. Auf einer Bank. Zwei Mütter (ich vermute jetzt einfach mal, dass sie die Mütter sind, vielleicht sind es auch … was weiß ich) mit zwei Kinderwägen und einigen, relativ kleinen, um sie herum spielenden Kindern. Sie rauchen. Die eine trinkt Limo aus der 1,5-Liter-Flasche vom Discounter, die andere hat neben sich eine Dose Energy-Drink stehen. Auf dem Boden liegen knallbonbonfarbene, offensichtlich leere Trinkpäckchen.
Meine Augenbrauen rutschen in den Haaransatz.
In meinem Kopf geht eine Schublade auf.
Ich gehe an diesem Nachmittag sehr oft am Spielplatz und dieser Bank entlang. Die Frauen sitzen die ganze Zeit dort. Die Schublade geht auf und zu. Und ich überlege…
Passt diese Schublade?
“Nein, Schubladen passen nie”, möchte ich als wohlerzogenen Reflex mich schelten!
Aber warum kann ich diese Schubladen nicht geschlossen halten?
Ich selbst will doch auch in keine rein. Ich will nicht bewertet werden und doch mache ich es. Ja, ich werte. Ganz eindeutig. Meine Augenbraue wertet unmissverständlich.
Doch es bleibt eine Momentaufnahme. Ich weiß doch ehrlich gesagt nicht einmal, ob diese Frauen dort die Mütter der Kinder um sie herum sind. Da fängt es schon an. Rein theoretisch weiß ich nicht einmal, ob es Frauen sind. Es sieht für mich nur danach aus. (und würde es etwas an meiner Wertung ändern, wenn es anders wäre?)
Ja, ich habe komische Gedanken, während ich der halsbrecherischen Fahrt des Krümels folge.

In welche Schubladen passe ich denn rein?
Manchmal fahren wir morgens mit dem Fahrrad durch den Vorort zum Kindergarten. Ich trage einen bunten Rock aus dem Kitenge, den eine Freundin mir aus Uganda mitbrachte. An den Füßen die obligatorischen Korkfußbettlatschen. Sehe mit dem Helm und meiner Kinderschar vermutlich ziemlich bunt und möglicherweise sogar etwas alternativ aus. Was auch immer alternativ heißt.
Manchmal fahre ich die Kinder mit unserem dunklen Familienvan vom Parkplatz neben dem kleinen weißen Reihenhaus direkt vor die Türen des Kindergartens. Ich sehe dann vermutlich mit meinem Mutti-Knödel auf dem Kopf und den hippen Sneakern an den Füßen zur schicken Bluse aus wie das Vorstadtmama-Klischee auf zwei glattrasierten Beinen.
Manchmal stehe ich kurz vorm Heulkrampf oder Wutanfall (das liegt nahe beineinander) völlig überfordert beim Bäcker im Supermarkt. Muss mit einer Unmenge Servierten das Nasenblut des Sonnenscheins auffangen, der gerade vom Helm seines jüngeren Bruders fast ausgenockt wurde. Neben mir jault die Prinzessin (ein Schokoladeneis bzw dessen Reste gleichmäßig auf dem schmuddeligen Shirt verteilt) in schrillen Tönen, dass sie nach Hause und fernsehen will, während ich fast hysterisch versuche den Krümel mit Worten davon abzuhalten WIEDER allein auf den Parkplatz zu stürmen.
Manchmal gehe ich mit drei zuckersüßen Kindern, die alle ihren eigenen Mini-Einkaufswagen schieben, durch den Drogeriemarkt, um die Wagen der mir lieb folgenden Kindern mit ihren Lieblingskeksen und Bio-Müsli, furchtbar gesunden Backmischungen und veganem Bortaufstrich zu füllen. Ein bisschen Büllerbü um mich herum mit dem wippenden Kleidchen der Tochter und den süßen Strohhüten der Jungs.
Es sind Momentaufnahmen. Und es sind Schubladen in die ich dann scheinbar passe.
Die meisten Beobachter machen sie in diesem Moment auf und wieder zu.
Können wir absolut wertfrei wahrnehmen?
Ich denke nicht. Das Denken in Kategorien oder Schubladen ist irgendwie eine Reduktion von Komplexität. Es sind letztendlich auch nur Erfahrungswerte, die uns im Laufe des Lebens geholfen haben, Situationen und eben auch Personen schnell einordnen zu können.
Es scheint mir nur wichtig, dass diese Schubladen nicht direkt fest verschlossen werden. Dass man zweite und weitere Momentaufnahmen zulässt, sie miteinander verknüpft, Personen die man kennenlernt aus den Schubladen holt und sie als das wahrnimmt, die sie sind: vielschichtig und viel zu komplex, um in Möbelstücke sortiert zu werden.
Mal abgesehen davon, finde ich es trotzdem ziemlich unangemessen, auf Spielplätzen zu rauchen. Dieser Umstand alleine, sagt mir aber nichts mehr über die beiden Personen auf der Bank, als dass sie eben auf Spielplätzen rauchen und scheinbar nichts dabei finden.
Nachdenkliche Grüße
Kerstin
Ich sehe das genau wie du. Ich denke diese Schubladen, dieses erste „einschätzen“ ist fest verwurzelt in uns. Wahrscheinlich hat es uns schon zu Steinzeiten geholfen Situationen, andere Menschen oder gar Feinde zu bewerten, einzuschätzen.
Ich finde das gar nicht schlimm.
Schlimm ist nur, wenn man diese Schublade fest verschließt und alle späteren Eindrücke irgendwie an seine festgefahrene Meinung anpasst, anstatt eine Neubewertung zuzulassen. Das merkt man vor allem dann, wenn es einem selbst widerfährt.
Ja, das sehe ich genauso. Man muss das auch für sich selbst so sehen, dass es manchmal passieren kann, dass andere einen (falschen) Eindruck von einem haben. Im falschen Moment quasi erwischt. Sie können nur dann etwas dafür, wenn sie an diesem festhalten.
Ich hab mich in 99% deiner Worte total wiedergefunden und hab auch schon oft an meinem Schubladendenken gezweifelt. Super reflektierter Text. Große Chaos-Kerstin-Liebe ❤😘
Danke <3 Ja, wir haben alle den Reflex, dass wir Schubladendenken und Vorurteile ganz weit von uns weisen. Soll man nicht. Macht man nicht.
Macht man aber eben doch. Ich glaube auch, aus guten Gründen (eben um schnell komplexe Dinge einfach zu verarbeiten). Falsch ist es nur dann, wenn aus dem Vorurteil die Überzeugung wächst, dass man damit die "Wahrheit" erfasst hat. Das hat man eben nicht. Man hat nur einen Teil wahrgenommen und den Rest des Bildes konstruiert. Da muss man Möglichkeiten offen lassen, das Bild vollständig werden zu lassen.
Liebste Grüße