Es ist Abend. Ich sitze im Zimmer der Zwillinge auf dem Bett des Sonnenscheins und habe gerade zwei Geschichten vorgelesen, das Licht ist gelöscht, ich habe gute Nacht gesagt, es gab einen Gutenachtkuss und – warum auch immer (Ich mache das sonst nie!)- singe ich:
Weißt du, wieviel Sternlein stehen
an dem großen Himmelszelt…
Sonnenschein sieht mich an und sagt ganz trocken: “Mama, das ist das Lied, das du immer gesungen hast, werden wir abends unsere Milch getrunken haben.”
Ich bin nicke sprachlos und singe weiter.
Tatsächlich haben mein Mann und ich früher, wenn wir die Zwillinge ins Bett gebracht haben, nachdem ich abgestillt hatte, gemeinsam jedem Kind eine Flasche gegeben, sie in den Armen gehalten und zu zweit Weißt du, wieviel Sternlein stehen… gesungen. Dann haben wir sie ihr Bett gelegt.
Dieses Ritual blieb ungefähr ein Jahr lang bestehen, bis die Zwillinge abends keine Milch mehr tranken. Das muss mit 18 Monaten gewesen sein. Damals begannen wir abends Geschichten vorzulesen. Und da ich eigentlich nie singe – ich kann überhaupt nicht singen – und an Traummann erst recht nicht – haben wir ganz sicher seitdem so gut wie nie wieder gesungen.
Längst vergessene Zeiten…
Und nun 3 Jahre danach sitzt da mein Sohn und sagt ganz selbstverständlich, dass er dieses Lied kennt und woher dieses Lied kennt. Mich als diejenige, die keine Ahnung von frühkindlicher Entwicklung hat und von Erinnerungsvermögen, haut das immer wieder um, denn gerade bei Sonnenschein ist das nicht das erste Mal dass er Geschichten aus der Zeit als Einjähriger raushaut
Auch wenn er früh angefangen hat zu sprechen: mit einem Jahr sprach gerade mal drei Worte, mit eineinhalb Zwei-Wort-Sätze (Kann man von Sätzen sprechen, wenn sie nur zwei Wörter
enthalten?). Die Geschichten, die er erlebte zwischen einem und zwei Jahren, begann er erst zu erzählen, da er schon längst drei und heute erzählt er immer noch davon.
Ich wünsche mir, dass er die warme Erinnerung an das Lied von den Sternen, die am Himmel stehen, und seinen Eltern, die ihn im Arm halten, im Herzen behalten kann.
Wie weit reichen deine Erinnerungen zurück?
Meine früheste Erinnerung ist:
Mein Vater der mich in eine Bettdecke gewickelt den langen Weg von unseren damaligen Wohnhaus zu Garage trägt. Es ist irgendwie in der Nacht und die Stimmung ist aufgeregt und sicher und warm. Es ist – und da bin ich mir sicher – die Erinnerung an die frühen Morgenstunden der Geburt meines Bruders. Mein Vater brachte meine Mutter ins Krankenhaus und mich zu meiner Oma. Aus dem Bett heraus.
Ich war drei Jahre und 18 Tage alt.
Ein weiterer kleiner Fetzen meiner frühen Erinnerung ist der Gang ins Krankenhaus am Tag der Geburt meines Bruders. Ich erinnere mich nicht an meine Mutter. Nur an ihr Bett und dass am Fußende dieses Bettes ein Kasten stand, der mich an ein Aquarium erinnerte. In diesem Kasten lag mein Bruder, ein kleines Baby wie eine Puppe und doch ganz anders. Ich weiß, dass ich meinem Bruder ein Kuscheltier geschenkt habe, ein kleines Püppchen, dass er übrigens immer noch besitzt und ohne das er ganz lange nicht schlafen konnte.
Die Lücke zwischen diesen beiden kleinen Erinnerungsfetzen ist die Erzählung meines Vaters, dass er mich nach der Geburt meines Bruders von meiner Oma abholte, um mit mir das Krankenhaus zu besuchen, was wenige hundert Meter von dem Haus meiner Großeltern entfernt war. Ein kurzer Weg. Doch ich bestand darauf erst nach Hause zu fahren, weil ich noch ein Geschenk für meinen Bruder holen wollte: eben jenes kleines Rassel-Püppchen.
Es gibt weitere Erinnerungen aus dieser Zeit bei mir. Alle diese Erinnerungsfetzen sind nicht sehr lang, nicht sehr vollständig, aber klar wie kurze kleine Augenblicke, wie Fotos. Und doch existieren davon keine Fotos.
Mein Bruder – Ein Geschenk
Ich erinnere mich an die Milchpumpe. Meine Mama hat wohl nicht lange gestillt, aber sie muss abgepumpte haben. Ich erinnere mich an meine Mutter, wie sie auf dem Sofa sitzt und Milch abpumpt. Ich erinnere mich an die Krabbeldecke, auf der mein Bruder im Wohnzimmer lag und an seine Spielzeuge und Püppchen, die ich am Rand der Decke immer in Reih und Glied hinlegte, neben ihm saß und ihm bewundert habe, ihm die Spielzeuge anreichte und mit ihm gesprochen habe.
Für mich war die Geburt meines Bruders – der Moment als ich Schwester wurde – ein unglaublich wichtiger Moment, sonst wäre er nicht so in meiner Erinnerung geblieben. Ich war und bin gerne Schwester.
Ich habe mich über die Geburt meines Bruders sehr gefreut, habe sie herbeigesehnt und meinen Bruder immer und bis heute angebetet, immer auf ihn aufgepasst. Klar haben wir uns zwischendurch auch mal gestritten, aber ich kann mich an kein Konkurrenzdenken ihm gegenüber erinnern. Mein Bruder war ein Geschenk für mich. So habe ich es als Kind empfunden und so empfinde ich es noch heute.
An was werden sich unsere Kinder erinnern, wenn sie in einigen Jahren gefragt werden? Wird das Lied im Gedächtnis bleiben? Oder wird der Sonnenschein daran denken, wie er die Stillzeiten seines kleinen Bruders dazu nutze, mit seiner Zwillingsschwester eine ganze Etage des Hauses mit Babyöl einzureiben? 😉
Wer weiterlesen möchte, mich haben diese Erinnerungen neugierig gemacht, der findet u.a. etwas bei Terrorpüppi über Erinnerungen an die eigene Kindheit. Dort ist auch ganz wunderbar beschrieben, welchen Wert diese frühen Erinnerungen für unsere Kinder haben. <3
Ebenfalls ganz interessant: Spektrum: Ab wann erinnern wir uns an unsere Kindheit?
Eure Kerstin